
Ein neuer Tag hat begonnen. Ahnungslos öffne ich die Augen, höre das Zwitschern der Vögel durch das geöffnete Fenster. Einen kurzen Moment vergesse ich das Besondere an diesem Tag. Einen kurzen Moment ist es einfach ein neuer, wunderschöner Tag … Dann kommt die Erinnerung zurück. Das erste was ich in meinem Kopf höre ist: „Kontaktverbot“. Ach ja. Corona. Die Krone. Heute wiegt sie schwerer als gestern. Sie sitzt auf meinem Kopf. Ich frage mich, ob sie ähnlich viel wiegt wie die Imperial State Crown der Queen. Heute ja. Sogar mehr als 1,28 Kilogramm. Da kann schon mal der Kopf schmerzen. „Nun denn“, murmele ich still in mich hinein. Aufstehen, Krone richten, weitergehen.
Also ziehe ich mich warm an und verlasse das Haus. Kontaktverbot. Ach ja. Die Krone erinnert mich. Die Straßen sind menschenleer. Kurz überlege ich, ob heute Sonntag ist. „Nein“, sagt die Stimme in meinem Kopf, „es ist Dienstag. Und Kontaktverbot.“ Dennoch gehe ich mutig weiter. Runter zum Fluss. Ein paar Jogger sind unterwegs. Mit Sicherheitsabstand. Ich sehe ihre Kronen und die Schwere, die sie beim Laufen erzeugt. Ich fasse an mein Haupt. Sie ist noch da. Kurz überlege ich, ob heute ein guter Tag für mich ist mit dem Joggen zu beginnen. Eine Form der Bewegung, die ich bisher entschieden ablehnte. Doch, nein, auf keinen Fall. Die Krone ist jetzt schon schwer.
Es sind einige Hunde mit ihren Menschen unterwegs. Keiner hat ihnen gesagt, dass Kontaktverbot herrscht. Sie tollen wild miteinander rum und gehören ganz offensichtlich nicht zum selben Stamm. Ich lächele. So frei in ihrem Sein. Natürlich, sogar wild. Unbeschwert.
Einzelne Menschen kommen mir entgegen. Kontaktverbot. Die Blicke sind zum Boden oder in die Weite gerichtet. Wer weiß denn schon, wer vielleicht den Virus trägt. „Gut so“, denkt mein Kopf flüchtig. Mein Herz stimmt es traurig. Meine Krone erinnert mich an die Schwere. Ich sehne mich nach Kontakt. Blickkontakt. Augenkontakt. Herzkontakt. Ich schaue nun intensiver den nächsten Menschen an, der mir entgegenkommt. Nichts. Kein Blick. Ich bleibe still. Achte die Grenze des anderen. Die Angst geht mit. Das ist der Virus. Die Krone. Ich weiß.
Ich gehe weiter. Alleine. Spüre Boden unter den Füßen, die Sonne im Gesicht, mein Blick schweift in die Ferne den Fluss entlang. Ein Tag wie jeder andere. Sagt die Natur. Jetzt ist Jetzt. Der Kopf sagt „Kontaktverbot“. Meine Augen füllen sich mit Tränen, denn ich fühle die Einsamkeit, die uns die Achtsamkeit bringt. Achtsamkeit klingt viel netter als Angst oder Vorsicht. Doch wo steht denn nun, dass Blickkontakt zur Infektion führt? Ein wenig Scham steigt in mir auf. Vielleicht bin ich ja Trägerin des Virus? Auf jeden Fall trage ich die Krone. Corona.
Mein Weg zurück nach Hause geht durch die Einkaufsstraße. Sie ist menschenleer. Ist heute vielleicht doch Sonntag? „Nein“, sagt mein Kopf. Es ist Dienstag. Der Bäcker hat auf. Gottseidank, Kontakt ist noch möglich. Mit 1,50 Abstand zum nächsten Menschen, bestelle ich Brötchen. Bezahle natürlich bargeldlos. Die Verkäuferin wünscht mir einen schönen Tag. Ich erwidere es von Herzen gerne. Ein schöner Tag. Ja. Die Sonne scheint, der Himmel ist so blau wie schon lange nicht mehr. Die Natur schert sich nicht um meine Krone. Sie schert sich gar nicht. Das ist gut so. Sie ist einfach. Sie dreht sich weiter. Vielleicht freut sie sich einfach über so viel Ruhe. Mein Blick richtet sich in den Himmel und ich atme bewusst ein uns aus. Ein und aus. Ein und aus. Welch ein Segen. Ich atme. Mein Kopf wird leichter, trotz Krone.
Corona sei Dank. Ich bin bewusst. Heute, hier. Mit allem. Auch der Schwere. „Willkommen“, sage ich innerlich zu ihr. „Du darfst da sein“. Ich seufze. Puh. Es ist nicht leicht. Doch das wusste ich schon vor Corona. Es ist nicht immer leicht. Es ist auch mal schwer, dunkel, tief, verzehrend. Heute ist so ein Tag. Mit Krone. Ich grüße die Sonne und lade sie zu mir ein. Ein Lichtstrahl findet in mein Herz und wärmt es.
Diese Tage. Sonn(en)tage. Eine Woche voller Sonnentage. Auch mit Krone wunderschön. Ich entscheide mich, meine Krone in Würde zu tragen. Mit dem Gewicht von heute. Krone richten, weitergehen. Ich lächele. Für mich. Für dich. Kontaktverbot. Was soll´s. Heute ist es so.
Morgen ist ein neuer Tag.
Ich entscheide mich für Kontakt. Blickkontakt. Herzkontakt.
Herzkontakt
In der Verbindung
mit deinem Herzen
weißt du,
du bist sicher.
Immer.
In der Verbindung
spürst du Vertrauen,
Liebe, Nähe und Zuversicht.
In der Verbindung
mit deinem Herzen
öffnest du den Blick.
Du schaust. Bewusst.
Erfasst dein Gegenüber sehend.
Wissend, ihr seid da.
Miteinander. Füreinander.
In der Verbindung
hüpft dein Herz
und deine Seele lacht.
Gemeinsam tanzen sie gen Himmel.
Pulsierend. Lebendig. Leuchtend.
In der Verbindung
mit deinem Herzen
erkennst du Wahrheit.
Du erinnerst dich.
Immer wieder wählst du
zu berühren.
Mit deinen Augen.
Mit deinem Herzen.
Mit deiner Entscheidung.
Du bist im Kontakt.
© Alexandra Thoese
24.03.2020 (Aus: Seelenpoesie – Worte, die das Herz berühren)
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