In mir lebt eine alte Meisterin. Ihr Haar ist grau und zu einem weichen Zopf geflochten. Sie sitzt mit ihrem Schaukelstuhl im 34. Stock eines Hauses und erzählt mir Geschichten. Ihr Blick ist verklärt als spräche sie nicht direkt zu mir, doch ihre Lippen bewegen sich fortwährend. Aus ihrem Mund formen sich tonlos Worte, die ich direkt in meinem Kopf höre. Dabei schaukelt sie bedächtig in ihrem alten Stuhl. Manchmal lächelt sie verträumt und ihre Augen leuchten verschmitzt auf. Ich nehme an, dass es diese Momente sind, in denen freudige Erinnerungen sie finden. Bisweilen taucht sie kurz in die Welt der Träume ein. Ich erkenne es daran, dass ihr Kinn sich auf die Brust senkt und ihr Atem sich verlangsamt.
Diese Momente, in denen sie schläft, sind wertvolle Zeitschätze für mich. In mir breitet sich dann eine warme, behutsame Stille aus. So eine, in die man sich hineinkuscheln kann und in der man sich ganz geborgen fühlt. Gedankenverloren wiege ich mich in den Schlaf.
Wenn ich erwache ist sie meist bereits anwesend. Es ist wie ein Summen oder Raunen in meinem Kopf. Wenn es mir gelingt, kann ich ihre Stimme in mir rechtzeitig abschalten. Die Bilder, die die Geschichtenerzählerin mit ihren Worten erschafft, werden in mir lebendig, sodass es mühsam ist zwischen Realität und Illusion zu unterscheiden. Meine innere Welt ist eine prachtvolle Bühne für ihre Wortbilder. Es ist ihr Lebenswerk und sie liebt es mich zu unterhalten. Sie weiß nicht, dass manche ihrer Erzählungen mich verunsichern oder sogar ängstigen. Ihr Wesen ist rein und arglos. In ihren Geschichten steckt viel Weisheit und gleichzeitig liebt sie theatralische Ausschmückungen und ihr Einfallsreichtum ist unerschöpflich. So findet auf meiner inneren Bühne manches Drama seinen Raum.
Mich zieht es mitunter so in den Bann, dass ich mich in ihren kunstvoll kreierten Gedankenwebereien verliere. Ich bin nicht Zuschauerin, sondern Hauptfigur inmitten des Geschehens.
Mein Herz weiß, dass es Fantasiegebilde sind, die meinem Kopf entspringen. Doch wenn ich hineintauche, fällt es mir schwer, meinem Herzen zu lauschen. Die weise Meisterin hat viele Möglichkeiten, um Türen in meinem Geist zu öffnen. Sie kennt die Magie des Erzählens und weiß um die Verantwortung, die ganz bei mir liegt. Sie vertraut darauf, dass ich wähle, was ich glaube. Es ist ein inneres Trainingsfeld, auf das sie mich immer wieder einlädt. Ihre gute Absicht trägt mich durch mein Leben.
Denn es sind Geschichten, die unser Leben begleiten. Wir haben die Wahl, welche wir bewahren und welche wir verabschieden.
Wenn sich im Gedankenland die Ereignisse überschlagen und ich aufgeregt auf der Bühne hin und her wanke, kommt sie liebevoll hinzu, berührt meinen Arm und zeigt mir ein goldenes Schild, auf dem in dunkelroten Lettern steht: »Glaube nicht alles, was du denkst«.
Dabei lächelt mich meine Meisterin gütig an.
Warme Ruhe breitet sich in mir aus.
Ich erinnere mich, wie leicht es ist, mit meinem Herzen Wahrheit zu fühlen. So habe ich stets einen Schlüssel zum Gedankenland und entscheide, womit ich in meinem Leben weitergehen will.
Ich wähle
Mein Leben lang.
© Alexandra Thoese
Im Juli 2022