Manchmal wenn ich traurig bin, denke ich an den kleinen Tod. Er begegnete mir auf meiner Reise in die Unterwelt. Bei unserer ersten Begegnung, war ich bei seinem Anblick sehr erschrocken, denn er sah aus wie ich. Nur viel kleiner und blasser. Er sah aus, als käme er aus der Kälte der Nacht. Sein Gesicht war schmal und eingefallen, seine Augen trübe und ohne eine Spur von Lebendigkeit. Seine Lippen waren grau, als hätten sie nie den Atem gespürt, der Leben heißt. Seine Haut war kalt, dass wusste ich ohne ihn zu berühren.
Der kleine Tod begegnete mir in einer Höhle. Diese sah auf den ersten Blick kalt und karg aus, doch je tiefer ich hinunterstieg, desto lichter wurde es dort. Ich spürte, dass der Untergrund weich und warm war und meine Füße ein wenig einsanken. Das Licht war schimmernd, leicht rötlich und in der Mitte der Höhle war eine kleine Senkung, in der ein wenig Wasser stand. Als ich zu Boden blickte, sah ich, dass ich nun barfuß war und meine Füße sehr klein schienen. Langsam ging ich weiter. In mir spürte ich Wärme aufsteigen und eine zarte Melodie fand mich. Ich sang sie leise vor mich hin. Schritt für Schritt ging ich auf die kleine Senke zu, setzte mich an den Rand und streckte meine Füße ins Wasser.
Es fühlte sich angenehm warm und wohlig weich an. Ich bewegte sanft meine Beine im Wasser hin und her. Hier wollte ich gerne bleiben. Von hier aus schaute ich mich in der Höhle um. Sie war nicht groß und besaß keine Öffnung. Ich wunderte mich, wie ich hierher gelangt war. Der Weg war nicht mehr sichtbar. Doch ich war ruhig und voller Vertrauen, denn ich erinnerte diesen Ort. Es war die Quelle meines Lebens, der Beginn, hier wuchs ich heran bis ich geboren wurde.
Ich legte mich mit dem Rücken auf den Untergrund, der sich warm an mich schmiegte.
Mein Blick ging zur Decke der Höhle, die rötlich schimmerte. Hier und da nahm ich Töne von außerhalb der Höhle war, die sich mit einem sanften Beben des Untergrundes mischten.
Von hier aus schaute ich mich weiter um und in einer dunkleren Ecke, entdeckte ich seine Gestalt. Auf mein Winken hin, kam er aus der Dunkelheit auf mich zu und ich bat ihn sich neben mich zu setzen. Wir schauten uns lange an und ich nahm seine Hand in meine. Er fühlte sich kalt an, doch weder unangenehm noch fremd. Wir blickten uns lange in die Augen und ich spürte meine tiefe Liebe zu ihm. Für einen Moment gesellte sich die Traurigkeit zu uns und ich sprach die Worte aus, die gerade in mir waren: „Kleiner Tod, es ist so schön dich zu spüren, ich habe dich sehr vermisst. Es ist so lange her, dass wir gemeinsam hier waren.“
Er schaute mich aus seinen dunklen, traurigen Augen an und sprach zu mir: „Es ist gut, dass du gekommen bist, denn ich möchte dir sagen, dass ich im Leben immer bei dir bin und das es dir an nichts fehlen muss. Bisher hast du mich nicht hören können, doch nun ist der Weg offen und wir können für einen Moment hier miteinander sein. Weißt du meine Liebe: Es gibt kein Ende, keinen Verlust, keine Trennung. Ich war immer an deiner Seite und habe dich ein Stück deines Weges begleitet. Dies war mein Wunsch, mehr wollte ich nicht. Nun ist es an der Zeit, dass du gehst. Dein Weg endet nicht hier bei mir.“
Mein Kopf sank in seinen Schoß und ich weinte eine kleine Weile. Dann blickte ich zu ihm auf und sagte: „Ich habe dich sehr vermisst, obwohl ich dich nur wage ahnte.“ Er hielt mich fest in seinen Armen und wiegte mich eine Weile. Dann sagte er: „Du schaffst es. Nun ist der Moment gekommen, wo du zurückgehen wirst. Der magische Mond wird dich geleiten.“
Da wurde mir warm ums Herz, denn ich spürte die Wahrheit in seinen Worten.
„Ich werde nie alleine sein. Ich werde nie einsam sein, denn da bist du an meiner Seite – lebendig in mir.“ Langsam löste ich mich aus unserer Umarmung und er lächelte mir sanft zu.
Nun war ich bereit den Weg zurückzugehen. Der magische Mond leuchtete mir meine Spur und ich ging zurück ins Leben.
Danke für diese Reise, geliebter kleiner Tod.
© Alexandra Thoese
2. Januar 2018
Foto: pixabay
Diese Geschichte beschäftigt sich mit der Thematik des „Verlorenen Zwillings“, welches mind. 20% der Bevölkerung betrifft.
Viele wissen darum nicht und tragen dieses Trauma des Verlustes unbewusst in sich.