Der Reisende

Ich habe dich eingeladen mit mir am Feuer zu sitzen. Des nachts bist du gekommen und ich habe dich nicht gleich erkannt. Nun sitzt du mir gegenüber und schaust in das magische Spiel der Flammen. Mein Blick wandert behutsam zu dir. Ich spüre, dass du noch Zeit brauchst um anzukommen. So warte ich still, schaue ins Feuer und gebe dir Raum. Ich strecke meine Hände aus und die Wärme der Flammen küsst meine Haut. Wohlig entspannt schließe ich meine Augen. Du beobachtest mich neugierig. Das spüre ich. Innerlich sende ich dir ein Lächeln zu und lautlos meinen Gruß: Du bist willkommen.

Ich ahne dein sanftes Lächeln. Dein Blick wandert über meine Gestalt. Du untersuchst mich mit all deinen Sinnen. Sehr achtsam öffne ich meine Augen. Eine Weile ruht mein Blick auf dem glühenden Holz. Ich lausche dem Knistern und Knacken welches entsteht wenn Feuer das Holz verzehrt. Die Flammenzunge leckt sanft am Holz, umhüllt es und kleine Funken gleiten durch die Luft. Kleine Glutwesen steigen empor und segeln um uns herum. Sie erglimmen, um dann als Asche zu Boden zu rieseln. Ihre Schönheit ist zart und vergänglich.

Mein Blick wandert langsam zu dir. Wir begegnen einander. Du nickst ein klein wenig. Ich weiß, dass es dein Gruß an mich ist. Wir schauen uns an. In diesem Augenblick übermittelst du mir die gesamten Erfahrungen deiner Reise. Ohne ein einzig gesprochenes Wort. Im Schnelldurchlauf ziehen Bilder durch meinen Kopf und Empfindungen durchströmen mein Herz. Ich sehe Farben, Strudel, Erinnerungen, erlebe Reisen in viele Welten, höre Klänge, fühle Begegnungen, erfahre Geburt und Tod, singe gemeinsam mit dir die Lieder der Alten, tanze in den Spuren der Vorfahren, verschmelze mit Seelen aus allen Ebenen, tauche hinein ins Sternenreich und gleite schließlich mit dir gemeinsam zur Erde und erlebe deine Ankunft in diesem Sein. Als du deine Augen behutsam schließt, endet die Verbindung.

Aufgewühlt lehne ich mich zurück. Bilder und Gefühle fluten meine inneren Räume. Ich tauche in die Weiten des Seelenozeans ein. Meine innere Wanderung führt mich in längst vergessene Zeiten. Ein bunter Teppich der Erinnerung webt sich in mir. Du bist gekommen um zu erinnern. Dies ist dein Geschenk an mich.
Ich hebe meinen Kopf und schaue dich an. Nun erkenne ich dich. Des nachts bist du schon oft mit mir gereist, doch ich habe dich nicht wahrgenommen.

Eine Zeit lang sitzen wir still am Feuer. Es gibt nichts zu sagen oder zu tun. Die Nacht beschenkt das Himmelszelt mit tausenden von Sternen.
Wir legen uns zur Ruhe ans Feuer. Ich sinke in einen tiefen, erholsamen Schlaf und träume davon, dass du dich mit einer langen Umarmung von mir verabschiedest.
Du schaust mir noch einmal tief in die Augen und übermittelst mir deinen Segen für alles was nun kommen will. Deine Reise geht weiter.

In der Dämmerung des neuen Tages erwache ich. Ich spüre tiefen inneren Frieden, sowie die Gewissheit, dass wir uns erneut begegnen werden. In dieser oder einer anderen Welt. Voller Vertrauen verabschiede ich mich von diesem Ort. Das Leben ruft mich. Ich folge ihm.

© Alexandra Thoese
August 2020

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